Warum man Demokraten leicht verwirren kann
Ich hatte das Glück, in meiner Schulzeit einige vernünftige Lehrer gehabt zu haben, denen ich viele wertvolle Einsichten verdanke. Leider brachte man mir auch ein paar Dinge bei, die sich später ganz einfach als falsch herausgestellt haben. Der aus meiner Sicht gröbste Fehler betraf die Funktionsweise unseres Staatssystem. Die falsche Darstellung der Grundlagen einer Demokratie ist leider weit verbreitet und mit dieser schlechten Erklärung kommen selbst überzeugte Demokraten leicht auf gedankliche Abwege. Beispielsweise schauen sie irritiert und hilflos zu, wenn politische Strömungen die Macht erringen, denen die Demokratie als Staatsform dem Grunde nach verhasst ist und sie abzuschaffen versuchen, das böse Spiel aber als demokratisch legitimierten Prozess etikettieren.
Wie war das wieder? Eine Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Demokratie beruht auf dem Mehrheitsentscheid. Ein gesundes Volk weiß, was richtig und falsch ist, daher ist der Mehrheitsentscheid zwangsläufig richtig. Und die Demokratie ist die beste aller Staatsformen. Das ist so ungefähr das verbreitete Bild einer demokratischen Staatsform. Was bitteschön soll daran falsch sein?
Schach als Testfall
Man kann das experimentell überprüfen. Ungeplant ist mir das in den späten Siebzigern als Mittelstufenschüler gelungen. Es war die Zeit, als man die ersten einfachen Schachcomputer kaufen konnte und die richtig großen Schachcomputer langsam in Schlagweite eines Schachweltmeisters kamen. Im Fernsehen wurde sogar ein Schaukampf zwischen einem internationalen Großmeister und irgendeinem Programm namens „Chess 4.7“ übertragen. Ersterer hatte gewettet, er werde über zehn Jahre hinweg gegen keinen Computer verlieren, letztlich diese Wette aber verloren. Schach war der Inbegriff von "Denken". Wir kamen auf die Idee, ein Schachspiel gegen einen unserer Lehrer auszutragen. Zur Ausstattung gehörten ein Schaukasten mit Schachbrett und ein davor aufgehängter Briefkasten für die vorgeschlagenen Züge. Der Ablauf der Partie ist nicht überliefert, die Probleme sind mir aber lebhaft in Erinnerung geblieben. Zunächst die geringe Beteiligung. Wurde ein Zug zwei Mal vorgeschlagen, dann gewann er schon die Abstimmung. Und die Vorschläge waren ziemlich dämlich. Ich bin der schlechtest anzunehmende Schachspieler, aber dass keine über mehrere Züge anhaltende Strategie zustande kam, sah sogar ich. Mit der Partie war es recht schnell vorbei, ein basisdemokratischen Fiasko.
Schach mag zwar Denken in höchster Vollendung sein, aber die Lenkung eines Staates ist eine andere Sache als sechzehn Figuren über ein Spielbrett zu schubsen. Wenn die Mehrheitsmeinung schon beim Schach kläglich versagt, wie soll das bei einem Staat funktionieren? Wenn der Mehrheitsentscheid keine sinnvollen und andauernden Strategien hervorbringen kann, spricht das nicht dafür, die Verantwortung in eine Hand zu legen? Spricht das nicht für einen König oder Diktator?
Aber was ist jetzt das? Normalerweise wird doch an unserer Staatsform ganz anders rumgemäkelt: Wir haben gar keine richtige Demokratie, denn mehr als alle paar Jahre ein oder zwei Kreuzchen zu machen, das sei ja wohl keine Regierung durch das Volk. Man brauche viel mehr Beteiligung des Volkes an der Regierung, nicht weniger. Und jetzt behauptet einer, das Volk habe gar keine Ahnung und sollte besser von der Macht ferngehalten werden. Und dann, soweit sei die Pointe schon vorweggenommen, will er uns doch von der Demokratie als beste Staatsform überzeugen.
Zwei Staatsformen, ein Name
Diese Verwirrung wollte ich ihnen nicht ersparen, denn sie ist genau der Kern des Problems: Es gibt zwei Regierungsformen, die unglücklicherweise den gleichen Namen Demokratie erhalten haben. Ich rede einerseits von der direkten Demokratie, gerne auch Basisdemokratie genannt, andererseits von der repräsentativen, oft auch parlamentarisch genannten Demokratie. Lässt man die präzisierenden Namenszusätze weg, ist das Durcheinander vorprogrammiert, denn die beiden Demokratieren unterscheiden sich wesentlich. Dass ich von der direkten Demokratie nicht unbedingt überzeugt bin, dürfte nach meiner Einleitung klar geworden sein. Ich will vielmehr versuchen, ihnen die parlamentarische Demokratie schmackhaft zu machen. Ich werde nichts sagen, was nicht klügere Menschen bereits früher gesagt haben. Wer es genau wissen will, der lese Karl Poppers "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde". Nicht nur eines der besten Bücher, die ich je gelesen habe, sondern auch ein selbst für Laien wie mich verständlich geschriebenes Buch.
Wer soll regieren?
Die zentrale Frage zur staatlichen Gewalt ist: Wer soll herrschen? Die Antwort darauf ist eigentlich sehr einfach: Die Beste. Aber diese banale Erkenntnis führt unmittelbar zu einer weitaus schwieriger zu beantwortenden Frage: Wer ist denn die Beste, woran erkenne ich sie/ihn/es? Die Menschheit hat darauf eine Reihe von Antworten gegeben, die ungefähr von "die/der/das mir am härtesten aufs Maul haut" bis zu "von Gottes Gnaden" reichen. Die Ansatz mit dem "aufs Maul hauen" überzeugt argumentativ nicht wirklich, macht aber zumindest im wörtlichen Sinne Eindruck und kommt deswegen von Alters her gerne zur Anwendung. Gottesgnadentum war eine Zeit lang etwas aus der Mode gekommen, erlebt aber gerade wieder ein Comeback. Das Problem der Auswahl des Herrschers ist schon vor Jahrtausenden durch Platon in seinem Werk „Der Staat“ detailliert herausgearbeitet worden. Sein Lösungsansatz beschreibt einen Auswahlprozess, der sicherstellen soll, dass an der Spitze des Staates der Beste steht. Warum bin ich jetzt eigentlich in die partiarchalisch männliche Form zurückgefallen? Für Platon dürfte eine Herrscherin undenkbar gewesen sein, hielt er doch Frauen für eine Degenerationserscheinung des Mannes. Mann sein alleine reichte aber auch nicht, König musste auf jeden Fall ein Philosoph sein. Platon war Philosoph, man kann darüber spekulieren, was er gerne gewesen wäre.
Bei Platon belegt die Demokratie nur den vorletzten Platz in einer absteigenden Folge von vier Staatsordnungen. Immerhin, der blanken Tyrannei gesteht Platon sogar nur den allerletzten Platz zu. Den Spitzenplatz vergibt er aber an ein Staatsgebilde, das verdächtig wie eine Blaupause aller totalitären Systeme des zwanzigsten Jahrhunderts aussieht, vom Faschismus der dreißiger Jahre bis zum heutigen Nordkorea. Wenn man genau hinsieht, ist sein Philosophenkönig sogar das genaue Gegenteil eines Philosophen. Seine wirklich gute, aber perfide Argumentation dürfte dafür verantwortlich sein, dass solche Systeme nicht nur bei den Dumpfbacken in den Bierstuben sondern auch bei Intellektuellen hoch angesehen sind. Man erinnere sich nur an Martin Heidegger. Aber Platons Argumentation ist nur scheinbar brillant. Zunächst fußt sie auf einer perversen Verdrehung des Begriffs der Gerechtigkeit. Seine Gerechtigkeit im Sinne von „jedem das seine“ wurde am Tor des Lager Buchenwalds durchaus in seinem Sinn gebraucht.
Platon stellt aber auch einige wirklich wichtige Fragen nicht:
Was machen wir, wenn der Beste gar nicht gut genug ist? Es stehen ja nicht unendlich viele Kandidaten zur Verfügung. Zu Platons Zeiten gab es immerhin Platon, heutzutage stehe ich zur Verfügung. Aber davor, dazwischen oder danach? Wenn die Helden abtreten, kommen die Clowns.
Oder: Selbst wenn wir den Besten zum König küren, was machen wir, wenn er alt wird und seine Fähigkeiten nachlassen? Nicht jeder ist ein Benedikt und tritt als Papst zurück. Gerontokraten vom Schlage eines Leonid Breschnews muss man mit den Füssen voran aus dem Amte tragen.
Oder: Die Zeiten ändern sich. Ist der Herrscher dazu in der Lage, sich an neue Realitäten anzupassen und Antworten auf Fragen zu geben, die in seiner Jugendzeit noch gar nicht gestellt wurden? Stellen sie sich einfach vor, Queen Elizabeth II würde seit 1952 wirklich regieren und nicht nur repräsentieren. Ihre Jungend im zweiten Weltkrieg ist unendlich weit von der Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts entfernt. Fast alles, was unser Leben heute ausmacht, gab es vor siebzig oder achtzig Jahren nicht. Was tun gegen die Langlebigkeit? Ablösen oder Erschießen? In Platons Staat existiert dieses Problem nicht. Platon hasste Veränderungen. Sein ganzer Idealstaat war so gebaut, dass er auf ewig unverändert bleiben sollte. Aber so funktioniert die Welt nicht, hat sie noch nie und wird sie auch niemals. Früher, ganz früher erfolgten Veränderungen sehr langsam und vielleicht konnte man sich noch zur Zeit der griechischen Philosophen in die Wunschvorstellung einer statischen Welt hineinträumen. Als Mitglieder einer fortschrittsorientierten Ära ist das aber eine Vorstellung, für die wir kaum noch Verständnis aufbringen. Die Amish mögen den Fortschritt für eine schlimme Sache halten, der Rest der Menschheit wartet aufs neue iPhone.
Und schließlich: Wenn der Herrscher von all der Macht, die wir im übergeben, charakterlich verdirbt und sich zum Tyrannen entwickelt? Guillotinieren? Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande…
Die Auswahl einer Regierung ist also gar nicht so einfach, siemuss ständig überwacht werden und ihre Entsorgung ist möglicherweise noch schwieriger. Vielleicht sollten wir es ohne Regierung versuchen, also mir einer Anarchie? Problembeseitigung an Stelle von Problemlösung. Ich möchte ihnen das gleich wieder ausreden. Es ist sehr, sehr sinnvoll eine Regierung zu haben. Es leben einfach zu viele Menschen auf der Welt, die sich ständig begegnen und bei der Gelegenheit irgendwas miteinander machen, Sex oder Geschäfte etwa. Nicht jeder Zeitgenosse erweist sich als Mit-Mensch oder Gutmensch, wobei ich den Begriff "Gutmensch" nicht im neuerdings sinnverdrehend beleidigenden Sinne meine. Wer Ärger mit einem Schlechtmensch hat, wird froh sein, wenn er zu seinem Schutz auf eine übergeordnete Machtinstanz zurückgreifen kann. Bei allem Optimismus den ich im Hinblick auf die menschliche Natur hege, die Zahl der Arschlöcher wird nie null sein. Ich bin froh, dass es Gesetze gibt und Menschen, die sie durchsetzen.
Eine Regierung also, ja. Aber warum sollen wir nicht alle mitregieren? Nach meinen länglichen Erläuterung zum Schach kann man sicher verstehen, dass ich davon nicht viel halte. Nicht jeder ist zum mitregieren fähig. Denken sie nur, was sie alles wissen müssen, wenn sie sinnvoll über die Energiepolitik entscheiden wollen: Chemie, Physik, Technik, Volkswirtschaft; und am nächsten Tag müssen sie vielleicht schon Experte für Verteidigungspolitik sein. Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, Agrarpolitik, soziale Sicherungssystem… die Liste ist lang. Glauben sie wirklich, dass sie persönlich zu allen Themen eine profunde Meinung haben? Wenn sie jetzt „ja“ gedacht haben sollten, dann sollten sie das als Beweis ihres Unwissen nehmen. Denn dann leiden sie mindestens an Selbstüberschätzung. Vielleicht sind sie einer dieser monomanen Schwachköpfe, die meinen alle Probleme der Welt mit einer einzigen Lösung erschlagen zu können. Aber selbst wenn sie sich selbst weiterhin für befähigt halten: Trauen sie das auch allen anderen 80 Mio. Bundesbürgern zu? Denn die regieren auch mit!
Neben der Frage nach der grundsätzlichen Befähigung: Nicht jeder will wirklich beim Regieren mitmachen. Nicht jeder hat die Zeit sich mit all diesen Fragen zu beschäftigen, Lösungskonzepte zu erarbeiten und durchzusetzen. Es gibt auch andere interessante Dinge im Leben. Regieren aber ist ein full-time Job.
Diese grundsätzlichen Probleme einer Regierung durch alle, einer Basisdemokratie summieren sich zu den bekannten Symptomen: Die Meinung der Mehrheit ist wankelmütig, es gibt aller Voraussicht nach keine langandauernden Strategien. Die Mehrheitsmeinung ist der Sache nach inkompetent, tausend Blinde ergeben nun mal keinen Sehenden. Und die Mehrheitsmeinung muss noch nicht einmal moralisch einwandfrei sein, andernfalls wäre Lynchjustiz der Inbegriff von Gerechtigkeit, das Gegenteil ist aber der Fall. Es ist meiner Meinung nach der große Irrtum der Naturalisten vom Schlage Rousseaus: Ein gesundes Volk wisse schon was für es richtig ist. Der dokumentierte Lauf der Geschichte widerlegt entweder diese These oder es hat noch nie ein solches Volk gegeben. Selbst wenn es irgendwann ein solches gegeben haben sollte, was nützt uns das? Wir leben jetzt und heute, mit den Menschen die da sind. Und damit müssen wir irgendwie klar kommen.
Parlamentarische Demokratie
Fassen wir zusammen. Wir benötigen eine Regierung und da regieren so wichtig ist, sollten wir die/die Besten nehmen, die/dem wir dafür bekommen können. Kandidaten wird es immer geben. Neben blenderischen Großmäulern werden wir auch Bewerber mit guten Ideen zum einen oder anderen Thema haben. Aber einen eindeutigen Sieger wird es nicht geben. Drum: Wir schauen und hören uns zunächst an, was die Anwärter auf ein Regierungsamt denn zu tun gedenken, wenn wir sie denn ließen, und übergeben dann dem die Macht, der den besten Eindruck macht. Wir müssen aber Vorsicht walten lassen und Sorge für den Fall tragen, dass wir uns verwählt haben sollten! Neben diversen Kontrollinstanzen (Gewaltenteilung, Opposition), die wir unserer Regierung zur Seite stellen, übergeben wir die Macht begrenzt und vor allem nicht dauerhaft. Manche Dinge darf eine demokratische gewählte Regierung einfach nicht und nach einer gewissen Zeitspanne, die gerade lange genug ist, auch längerfristige Ziele anzugehen. aber kurz genug, um missglückte Experimente noch rechtzeitig beenden zu können, entscheiden wir erneut über die Vergabe der Regierungsverantwortung. Steht jemand zur Verfügung, von dem wir uns mehr erwarten, dann war es das für die alte Regierung. Sie darf sich dann ab sofort in der Opposition neu erfinden. Im Grunde ist das eine eingeschränkte Diktatur auf Zeit oder um es mit den Worten meines alten Lateinlehrers zu formulieren: "Ich bin für vier Jahre gewählt und deswegen wird gemacht, was ich sage". Aber eben nur für vier Jahre. Und nicht wirklich alles
Dieses System nennt sich repräsentative Demokratie. Klingt seltsam, ist aber richtig. Seltsam, weil das namensgebende Volk in einer solchen Regierung gar nicht vorzukommen scheint. Es ist aber tatsächlich eine Regierung durch das Volk. Nicht so sehr durch den Akt der Wahl, an dem jeder teilnehmen darf, sollte und meiner Meinung auch muss. Das hört sich nach nicht viel an: Ein Kreuz alle vier Jahre? Könnte man das nicht auch gleich bleiben lassen? Aber dieses aktive Wahlrecht muss sein, denn es gibt keine übergeordnete Instanz, die zur Ernennung einer Regierung berechtigt wäre. Wer sonst als die Regierten sollten eine Entscheidung darüber treffen können, ob sie gut regiert werden? Man sollte sich vergegenwärtigen, dass mit diesem Kreuz eine Entscheidung über die Richtung einer Regierung in den folgenden Jahren festgelegt wird. Gehen sie damit nicht sorglos um! Wem sie zur Macht verhelfen, der hat sie erst einmal und sie werden ihn erst nach einigen Jahren wieder los. Ein verantwortungsvoller Umgang mit ihrer Stimme erfordert, dass sie sich mit den Plänen der Kandidaten auseinandersetzen. Werden die gemachten Versprechungen ihren Wünschen gerecht? Sind die formulierten Ziele überhaupt realistisch erreichbar? Darüber sollten sie sich schon Gedanken machen, bevor sie ihre "Kreuzchen" machen. Sie sind ein kleiner Teil des „Aufsichtrats“ des Staates, sie bestimmen zusammen mit allen anderen die grundsätzliche Ausrichtung der Politik. Und „die Politik“, die Regierung das sind die von ihnen beauftragten und bezahlten Manager.
Schaut man freilich auf die sogenannten „Protestwähler“, kommt man zum deprimierenden Ergebnis, dass sehr viele Bürger noch nicht einmal mit diesem kleinen bisschen Verantwortung umgehen können. Vorsicht ist bei Partien angesagt, die gar keine Ziele definieren wollen. Oder aber monothematische sogenannte Protestparteien, die wie Kapitän Ahab nur ein Ziel kennen und ihnen davon die Lösung aller Probleme versprechen. Wer die Welt derart simplifiziert, ist entweder selber dumm oder hält sie für dumm. Trotzdem werden sie gewählt.
Der Clou an der parlamentarischen Demokratie ist aber nicht das aktive Wahlrecht sondern das passive, auch wenn es die meisten Bürger mit dem aktiven bewenden lassen. Wenn ihnen der Zustand unseres Gemeinwesens wichtig ist und wenn sie absolut keine geeigneten Kandidaten auf dem Wahlzettel finden, wer oder was hindert sie daran, selber "in die Politik zu gehen"? Lassen sich selber als Kandidaten aufstellen. Auch alle anderen Politiker stammen „aus dem Volk“, eine Erblichkeit im Sinne von Adel gibt es glücklicherweise nicht mehr, denn sie hat nie richtig Sinn gemacht. Bilden sie sich aber nicht ein, dass dieser Schritt einfach wird. Es wie mit der Meinungsfreiheit. Die garantiert nur, dass man seine Meinung frei äußern darf. Es gibt aber keine Verpflichtung, dass sie von anderen angehört oder gar ernst genommen werden müsste. Wer in der Öffentlichkeit dummes Zeug redet, gibt sich als Idiot zu erkennen und wird auch meist so behandelt. Auch als selbsternannter Anwärter auf ein politisches Amt werden sie nicht mit Samthandschuhen angefasst. Niemand hat auf sie gewartet. Sie werden sich möglicherweise über Jahre hinweg durch die Instanzen durcharbeiten müssen, Verbündete suchen, sich in der Öffentlichkeit beleidigen lassen. Aber das alles muss es ihnen wert sein, wenn sie keinen geeigneteren Kandidaten als sich selber kennen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass wir keine Basisdemokratie aus 80 Mio. Dilettanten brauchen. Wir brauchen Fachleute, die in einem Ideenwettbewerb zueinander stehen, und aus denen wir die geeignetsten auswählen können. Die wir im Versagensfalle unblutig austauschen können, bevor der angerichtete Schaden zu groß wird. Wir brauchen eine repräsentative, parlamentarische Demokratie und Menschen, die sich um Regierungsämter bewerben und sie kompetent und verantwortungsvoll ausfüllen.
Populäre Irrtümer
In diesem Konzept kommt dem Mehrheitsentscheid nicht die mythisch überhöhte Bedeutung zu, die ihm von Basisdemokraten zugeschrieben wird. Er hat eine wichtige Funktion, wenn es um die Festlegung der Marschrichtung während einer überschaubaren Zeitspanne geht. Er hat aber keine Bedeutung, wo er nur Schaden würde: Bei Detailentscheidungen. Es sollte ihnen jetzt leicht fallen, den folgenden populären Irrtümern entgegenzutreten:
Lassen sie sich nie von Populisten einreden, dass das Volk zu allem und jedem befragt werden muss. Da wird nur versucht, die leichte Beeinflussbarkeit der Masse für eigene Zwecke auszunutzen. Wir brauchen nicht mehr Bürgerentscheide. Bürgerentscheide mögen gelegentlich ihren Sinn haben, dieses Mittel sollte aber nur vorsichtig eingesetzt werden. Meistens kommt es zu kurzsichtigen Entschlüssen, die der Komplexität der Welt nicht gerecht werden.
Lassen sie sich ebenso nie von Populisten einreden, dass eine einfache Mehrheit von wenigen Prozent bei minimaler Wahlbeteiligung unwiderruflich den Willen des Volkes wiedergibt. Noch weiß man nicht (es ist gerade Juni 2019) wie der „Brexit“, der geplante Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union ausgehen wird. Aber er sollte bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein warnendes Beispiel sein. Warum eine 52% Mehrheit bei 40% Wahlbeteiligung (so ungefähr zumindest) den unumstößlichen Volkswillen wiedergeben soll, auf die Erklärung warte ich noch. Wenn man sich in großen Fragen der Rückendeckung durch das Volk versichern will, dann sollte das eine ausreichende Wahlbeteiligung und eine qualifizierte und nicht einfache Mehrheit erfordern.
Und lassen sie sich niemals einreden, dass die Abschaffung oder Gleichschaltung demokratischer Institutionen durch eine Regierung ein demokratischer Akt sei. Die Regierung sei dazu ja durch ihre Wahl legitimiert, so wie das etwa Hitler, Orban, Erdogan oder die PIS Partei uns das weiß gemacht haben oder machen wollen. Eine Wahl autorisiert eine Regierung nicht, die demokratischen Spielregeln grundlegend zu ändern. Ihr Regierungsauftrag ist grundsätzlich beschränkt und erstreckt sich genau darauf nicht. Sollte die Verfassung eines Staates eine solche Möglichkeit in Form eines Notfallparagrafen vorsehen, muss man das als Konstruktionsfehler der Verfassung betrachten. Nur um nicht missverstanden zu werden: Natürlich können Regierungen mittels ihrer Macht ein demokratische Ordnung aufweichen oder gleich ganz abschaffen. Demokratisch legitimiert ist das aber nicht. Wenn Bürger und staatlichen Instanzen schlafen, wachen sie in einem anderen Land auf.
"Ein so großes Land wie China kann man gar nicht mit demokratischen Methoden beherrschen". Soll Helmut Schmitt gesagt haben und der muss es ja gewusst haben. Damit hat er tatsächlich recht, wenn man unter Demokratie die direkte Demokratie versteht. Aber er liegt falsch, wenn man es auf die repräsentative Demokratie als „eingeschränkte Diktatur auf Zeit“ bezieht. Wäre Maos Macht alleine zeitlich beschränkt gewesen, so wäre den Chinesen vielleicht einiges erspart geblieben.
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